Kirche

Fürchtet euch nicht!

Fürchtet euch nicht!

Die Geschichte vom hässlichen Engel und der wahren Schönheit

Ich meine nicht die vielen kunstvollen oder auch kitschigen Engelfiguren, die in der Advents- und Weihnachtszeit Stuben und Fenster bevölkern. Ich denke auch nicht an Frauen, die von verliebten Männern als „mein Engel“ bezeichnet werden oder an Großeltern, die Engel und Enkel verwechseln. Ich denke an die Engel, von denen in der Bibel die Rede ist. Wir wissen wenig über sie. Die Bibel erzählt vom Leuchten der Engel – und lässt uns im Dunkeln, wie man sich das vorstellen kann. Schauen wir uns einen Abschnitt der Weihnachtsgeschichte an, Lukas-Evangelium, Kapitel 2:

„Es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Immer wieder beginnen Engel ihre Botschaft mit den Worten: „Fürchtet euch nicht!“ Warum? Sicher, eine Engelserscheinung ist offenbar sehr hell, um nicht zu sagen grell: „die Klarheit des Herrn leuchtete um sie“. Wenn Gott Klarheit schafft, dann wird es wahrlich hell und das kann erschreckend sein!

Aber vielleicht sind Engel einfach ziemlich hässlich? Zumindest in unseren menschlichen Augen? Ich stelle mir vor, dass solch ein Engel bei Gott, dem liebenden Vater aller Geschöpfe (also auch der Engel), anklopft und fragt, ob er, der brave Engel, nicht ein wenig netter aussehen könnte. – Und weil Gott in Weihnachtsstimmung ist, sagt er seinem himmlischen Mitarbeiter: „Dann schau Dich doch mal um! Mach eine kleine Weltreise und dann sag mir, wie Du aussehen möchtest.“

Nennen wir unseren outfit-orientierten himmlischen Mitarbeiter Uriel. Uriel, das bedeutet „Licht Gottes“. Uriel, der Engel, dreht vor Freude zuerst drei Runden extra und dann saust er los von Ort zu Ort.

Das erste Ziel ist natürlich das Erzgebirge, er hat längst gehört, dass dies das Weihnachtsland sei. Er sieht jede Menge niedlicher Engelfiguren, eine stolze Mischung aus Kunst und Kitsch – aber er lacht sich fast kaputt darüber, dass ER SO aussehen könnte, mit Pausbäckchen und Miniröckchen oder auch als Bergmanns-Hausfrau – und dann die Botschaft: „Christus, der Herr, ist geboren“ - ? Nein, das ist ja alles ganz niedlich und schön, aber SO will ER nicht aussehen.

Er besucht auch die Ateliers der Künstler und bewundert großartige Gemälde und Skulpturen. Gewaltige Werke sieht er und manchmal bekommt er selbst Angst vor dem, was sich Menschen als Engel vorstellen. In Güstrow sieht er den Schwebenden von Ernst Barlach und wird sehr nachdenklich, aber am Ende findet er auch in den Ateliers kein Bild und keine Form, die zu seiner eigenen Vorstellung von Engel passen.

Schließlich kommt er an einem Kino vorbei und macht noch einen Abstecher nach Hollywood. – Gewaltige Tricktechnik beeindruckt ihn, aber er merkt schnell: Da ist nichts echt, das ist nicht die Wirklichkeit, das ist nur die virtuelle Welt, gezeichnet und per Computertrick animiert, geboren aus Ängsten und Hoffnungen, Phantasien und Träumen kreativer Menschen, beeindruckend – aber nicht real und deshalb für Engel nicht geeignet.

Bald steht er wieder vor Gott, dem Vater: „Nun, wie willst Du aussehen?“ wird Uriel gefragt. – Nun steht er ziemlich verlegen da. Er erzählt, halb belustigt, halb beleidigt, von den Versuchen der Menschen, sich einen Engel bildlich vorzustellen, aber weil ihm das alles am Ende peinlich ist, will er Gott Vater schnell auf etwas anderes aufmerksam machen:

„Übrigens, da oben, im Erzgebirge, da herrschte ja früher viel Armut. Gott sei… - also ich meine, DIR sei Dank, ist das heute nicht mehr so schlimm. Aber etliche arme Menschen gibt es noch immer. Die Erzgebirger sprachen von „Hartz-IV-Empfängern“. – Keine Ahnung was das ist. Aber stell Dir vor: solch eine Hartz-IV-Empfängerin, sie ist wirklich nicht reich, das sieht man gleich, die lädt Kinder aus der Nachbarschaft zu sich ein. Sieerzählt ihnen die schönsten Geschichten aus Deinem großen Buch, der Bibel. Sie bastelt und backt mit ihnen und die Kinder anderer Leute bevölkern ihre gute Stube, machen alles dreckig, aber alle sehen fröhlich und glücklich dabei aus.

Und als ich dann die Künstler besuchte, da war ich auch in Afrika. In einem armen Land traf ich einen jungen Mann, der die schönsten Kunstwerke aus Stein herstellt. – Stell Dir vor, er verkauft seine Kunst und das halbe Dorf kann davon leben. Er könnte in Europa oder in Amerika reich werden, aber er bleibt und hilft seiner Dorfgemeinschaft.

Und schließlich in Hollywood, wo alles glänzt und glitzert, da habe ich auch die Ecken gesehen, in die sich niemand traut, weil zu viele Arme zu viel auf die Reichen hören. – Mit Gewalt machen sie sich das Leben noch schwerer. Aber mitten in diesem Elend gibt es ein paar „Verrückte“, sie sehen wirklich komisch aus, mit Uniformmänteln und ziemlich alten Blechblasinstrumenten. So singen sie Lieder, dass es mein Engelsohr fast beleidigt hat. – Aber sie singen nicht nur, sie packen zu und helfen und ihre Gesichter, die glänzen voll Liebe und Weihnachtsfreude und es gab wirklich ein paar von diesen Gangstern, die ihnen zugehört haben! – Und:

ich hab es selbst gesehen, wie sie sich verstohlen die Tränen aus den Augen gewischt und ihre Pistole weggesteckt haben.

Ja, vieles ist im Argen, auf Deiner lieben Erde, lieber Gott Vater. – Ich sehe ein: Es gibt einfach wichtigeres als mein Aussehen.“

Was sollte Gott zu so viel weiser Selbsterkenntnis sagen?

„Mein lieber Uriel, Du bist wirklich ein heller Bursche, das hast Du gut erkannt. – Und Du hast sogar entdeckt, wie Engel heute auch aussehen!“

Uriel brauchte – genau wie ihr – nur einen Moment, um zu begreifen, was Gott ihm sagen wollte. – Er musste dennoch schmunzeln, denn er wollte wirklich nicht aussehen wie die erzgebirgische Hartz-IV-Empfängerin oder wie ein amerikanischer Heilsarmee-Soldat und noch nicht einmal wie ein afrikanischer Steinbildhauer.

Aber in seinem Herzen wurde Uriel Gott sehr dankbar, dass er so besonders aussah und dass er so helle war und – dass Gott noch viele andere, ganz unterschiedliche Boten hat, damit es viele Menschen, auf der ganzen Welt hören und sehen und selbst erleben:

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!“

Uriel aber dachte: Sollen doch die Menschen ruhig auch weiterhin ein bisschen erschrecken, wenn mal wieder ein Bote direkt von Gott zu den Menschen kommt. – Vielleicht merken dann auch die Menschen endlich, dass es nicht wichtig ist, wie einer aussieht, sondern dass die Botschaft entscheidend ist – und die Boten, die tun, was Gott ihnen aufgetragen hat!

Uriel drehte vor Freude noch eine Runde, dachte an diese wunderbare Idee Gottes, wie er als Kind in der Krippe den Menschen ganz besonders nahe ist und ihnen seine Liebe zeigt und er summte leise vor sich hin: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

FRIEDE uns und allen Menschen – und zur rechten Zeit ein gutes Wort, eine gute Tat und einen Engel Gottes, der uns beisteht und uns hilft! Gesegnete Advents- und Weihnachtszeit!

Thomas Günzel, Leipzig / Dresden